18.09.2020
Im heutigen Beitrag möchte ich mich mit dem Thema „Stretching“ beschäftigen und dabei der Frage nachgehen, wofür Stretching eigentlich gut ist und wie es denn auszuführen ist.
Unter „Stretching“ versteht man landläufig eine körperliche Übung, bei der ein bestimmter Skelettmuskel (oder eine Muskelgruppe) bewusst auf seine volle Länge verlängert wird, um die gefühlte Elastizität des Muskels zu verbessern.
Schauen wir uns zunächst die Gründe an, warum man sich stretcht:
- Aufwärmen und Verletzungsprävention
- Prävention/Behandlung von Bewegungsschmerzen
- Behandlung von Sportverletzungen und chronischen Schmerzen
- Verbesserung der Flexibilität
Aufwärmen und Verletzungsprävention
Sicherlich haben Sie auch die Bilder im Kopf, die man vor jedem Fußballspiel sehen kann. Da laufen die Spieler auf und ab und vor allem machen sie Stretchingübungen. Das Stretching soll den Muskel aufwärmen und so die Verletzungsanfälligkeit verringern.
Inwiefern Stretching den Muskel aufwärmen soll, scheint mir persönlich nicht ganz schlüssig. Das ist etwa so, als würde ich ein Steak braten wollen, indem ich daran ziehe.
Ein Review im „Clinical Journal of Sports Medicine“, kam zu dem Schluss, dass die Evidenz „zeigte, dass das Stretching keinen Effekt bei der Reduzierung von Verletzungen hatte“ (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15782063).
In einer größeren klinischen Kontrollstudie mit über 1000 Teilnehmern der US-Army vollzogen die Teilnehmer über einen längeren Zeitraum eine Aufwärmroutine, die auch Stretching enthielt. Ergebnis: „keine signifikanten Unterschiede in der Verletzungshäufigkeit zwischen der Präventionsgruppe und der Placebogruppe“
Eine weitere große Kontrollstudie mit über 2700 Teilnehmern testete über einen Zeitraum von 23 Monaten, ob die Verletzungsanfälligkeit sich ändert, wenn vor einem Lauf ausgiebig gestretcht wird. Ergebnis: „kein statistisch signifikanter Unterschied im Verletzungsrisiko zwischen den Gruppen Pre-Run Stretching und Non-Stretching“ (Pereles et al.). Die Verletzungsrate zwischen den Gruppen war gleich. Das Stretching hatte also gar keinen Einfluss.
Die bereits oben angeführte Studie von Kay et al. zeigte bei längerem Stretching (> 60 Sekunden) einen negativen Einfluss auf die Muskelkraft haben könnte.
Das FIFA11+ zur Prävention von Verletzungen bei Fußballern beinhaltet explizit kein Stretching. Könnte das einen Grund haben?
Stattdessen wird auf Laufübungen und statische Kraftübungen gesetzt. Wenn sich Sportler aufwärmen möchten, ist es sinnvoller, die Zielbewegungen in leichter Art und Weise zu machen, um zum einen den Kreislauf vorzubereiten, aber vor allem, um die Bewegungsmuster im Nervensystem schon einmal abzurufen. So geht aufwärmen.
Wir können also festhalten, dass Stretching keinen Einfluss auf die Verletzungsanfälligkeit hat.
Prävention / Behandlung von Bewegungsschmerzen
Wenn man irgendwo ein Ziehen oder Ziepen hat, neigt man dazu, die betroffene Stelle intuitiv zu stretchen. Manchmal kann sich das sehr gut anfühlen und vielleicht können wir vorübergehend Schmerzzustände etwas verbessern.
Der größte Teil der Evidenz ist anekdotischer Art.
Zumindest aber für Nackenschmerzen und Schmerzen im unteren Rücken ist eine Wirksamkeit von Stretching durch klinische Studien belegt. Stretching führte hier zu einer Verbesserung.
Verbesserung der Flexibilität
Belegt ist die Wirkung des Stretchings, wenn es darum geht, den Bewegungsradius in einzelnen Gelenkbereichen (englisch: Range of Motion, kurz: ROM) zu verbessern, wenn auch nicht immer so ganz sicher.
- Freitas et al.: „Stretching-Interventionen mit einer Dauer von 3 bis 8 Wochen scheinen weder die Muskel- noch die Sehneneigenschaften zu verändern, obwohl sie die Dehnbarkeit und Toleranz gegenüber einer höheren Zugkraft erhöhen.
- Behm et al.: „Alle Formen des Trainings führten zu ROM-Verbesserungen, die in der Regel <30 Minuten anhalten.“
- Medeiros et al.: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das statische Dehnen wirksam war, um die Flexibilität der Kniesehne bei gesunden jungen Erwachsenen zu erhöhen.“
- Decoster et al.: „the evidence appears to indicate that hamstring stretching increase range of motion“. Hier drücken sich die Autoren sehr vorsichtig und unschlüssig aus.
- Harvey et al.: „Die Ergebnisse von vier „moderaten“ Qualitätsstudien zeigen eine überzeugende Wirkung der Dehnung bei Menschen ohne funktionell signifikante Kontraktur.“
Stretching, aber wie?
Die klassische Methode ist das sog. „statische Stretching“. Hier hält man einen verlängerten Muskel einige Sekunden in der Verlängerung (da, wo man den „Stretch“ spürt) und lässt dann wieder nach.
Dann gibt es „fortgeschrittene“ Methoden mit so schön klingenden Namen wie „Propriozeptive Neuromuskuläre Fasilitation“ (PNF). Hier fügt man dem normalen Stretch noch eine aktive Muskelanspannung hinzu. Beispielsweise hält man einen Stretch für 10 Sekunden, kontrahiert dann den Muskel für weitere 15 Sekunden, um dann anschließend wieder 15 Sekunden zu dehnen.
Die letztere Methode liefert die gleichen Ergebnisse wie einfaches statisches Stretching (Studie).
Es reicht also, wenn man sich auf das statische Stretching beschränkt. Nun ist aber die Frage: Wie lange hält man den Stretch? 5 Sekunden? 30 Sekunden? 5 Minuten?
Manche Schulen predigen das Halten einer Stretch-Position für mindestens 2 Minuten. Die Begründung ist, dass sich ab diesem Punkt die Faszie angeblich anfängt zu entspannen. Das Problem dabei ist, dass das nicht nur grottenlangweilig ist, sondern dass dafür auch einfach keiner Zeit hat.
Kurzer Einschub:
Da mich die Sache mit den 2 Minuten interessiert hat, habe ich mich in den entsprechenden Datenbanken dumm und dusselig gesucht nach einer Kontrollstudie, die gezeigt hat, dass 2 Minuten statischer Stretch effektiver ist. Etwas gefunden habe ich nicht. In meiner Verzweiflung habe ich dann den deutschen Faszienpapst Robert Schleip angeschrieben. Der hat mir auch prompt geantwortet und mir einen Review von Thomas et al. geschickt (den können Sie sich gerne aus meiner Cloud herunterladen). Ein Review nimmt sich alle Studien zu einem Thema vor und fasst die Ergebnisse zusammen. Dabei kam heraus, dass weniger die Dauer der einzelnen Dehnung entscheidend ist, sondern, wie oft man das durchführt. 5 – 10 Minuten pro Woche ist effektiver als <= 5 Minuten pro Woche wohingegen mehr als 10 Minuten pro Woche auch nicht mehr bringt – eher sogar weniger. Von 2 Minuten halten pro Stretch war da nirgends die Rede.
Die Wahrheit ist, dass es so richtig eigentlich niemand weiß.
Von dem, was wir wissen, wissen wir, dass 15 Sekunden besser ist als 5 Sekunden (siehe hier).
Bandy und Irion untersuchten den Einfluss der Zeit auf die Effektivität des Stretchings. Drei Gruppen führten einen Stretch aus für jeweils 15 Sekunden, 30 Sekunden und 60 Sekunden. Ergebnis: 30 Sekunden waren so effektiv wie 60 Sekunden. 30 Sekunden waren wesentlich effektiver als „nur“ 15 Sekunden.
Die gleichen Autoren zeigten in einer weiteren Studie, dass 30 oder 60 Sekunden keinen Unterschied machen und dass einmal täglich genauso effektiv ist wie dreimal täglich.
Wenn 60 Sekunden genauso effektiv ist wie 30 Sekunden, dann erschließt sich mir zunächst nicht, warum ab 2 Minuten der Stretch effektiver sein sollte. Selbst wenn 2-5 Minuten mehr Bewegungsspielraum bringen würden, hat aber einfach keiner die Zeit dafür und zudem ist die Frage, wozu man den Bewegungsspielraum denn verändern will. Ich komme gleich darauf.
Eine experimentelle Studie von Marshall et al. ergab bei „einem 4-wöchigen Stretching-Programm bestehend aus 4 Kniesehnen- und Hüftdehnungen, die 5-mal pro Woche durchgeführt wurden“ eine Verbesserung des Bewegungsradius um 20 %.
Fassen wir also kurz zusammen:
Es ist belegt, dass ein statisches Stretching bestimmter Muskeln/Muskelgruppen durchgeführt an 5 Tagen in der Woche den Bewegungsspielraum (Range of Motion) verbessern kann. Nach dem, was wir wissen bringt, mehr nicht mehr.
Jetzt ist Frage: Warum möchte man die Beweglichkeit in bestimmten Bereichen verbessern?
Wenn Ihre Beweglichkeit im normalen Bereich liegt – und Sie können davon ausgehen, dass dem so ist, denn darum ist sie ja „normal“ – besteht für ein Stretching eigentlich kein Anlass (es sei denn, Sie können sich bei bestimmten Schmerzsymptomen damit kurzfristig Erleichterung verschaffen).
Vorausgesetzt, Sie sind in einem bestimmten Gelenkbereich nicht so unbeweglich, dass es Sie im Alltag stört, haben Sie vermutlich keinen Grund dort beweglicher zu werden.
Selbst viele Top-Athleten sind extrem „unbeweglich“. So schreibt etwa Matt Foxüber den Marathon-Weltmeister Eliud Kipchoge:
„Er war extrem unflexibel. Nach einem leichten Morgenlauf (16 km in 1h10min) stretchten wir uns mit der Gruppe. Die meisten waren ziemlich flexibel in den Hamstrings (d.h. gerade Beine stehend und sich bückend, um die Zehen mit geraden Knien zu berühren und die Zehen berühren zu können), aber Eliud kam nur bis etwa zur Hälfte seiner Schienbeine. Er war noch lange nicht so weit, dass er seine Zehen berühren konnte! Alle empfanden es als urkomisch, dass er nicht annähernd seine Zehen berühren konnte.“
In einem Artikel in Sports Illustrated von 1983 wird über den Coach von David Moorcroft, einem britischen Langstreckenläufer und Weltrekordhalter über 5000 m:
„Zum einen lehnt Anderson das Stretching ab, das die meisten Läufer machen. ‚Es ist Unsinn‘, sagt er. ‚Die Vorstellung, dass man durch Berühren der Zehen die Fasern in der Kniesehne verlängert, ist falsch. Eine solche Dehnung des Weichgewebes ist eine erlernte Fähigkeit und ist nicht auf das Laufen übertragbar. Dave braucht eine Flexibilität, eine Gelenkbeweglichkeit und schnelles Laufen ist die richtige Art der Dehnung für ihn.'“
Damit erläutert der Coach, warum Stretching funktioniert: Wir verlängern nicht einen Muskel, sondern konditionieren unser Nervensystem, indem wir ihm mitteilen, dass das Halten dieser Endposition ungefährlich ist. Etwas böswillig ausgedrückt könnte man auch sagen, dass es sich dabei um eine Art Dressur handelt.
Zum anderen spricht er das Thema Gelenkbeweglichkeit an.
Beim nächsten Mal erfahren Sie dann, was ein langweiliges Stretching ersetzen könnte.
Und zum Schluss noch ein kleiner Knaller: In einer experimentellen Studie zeigten Aquino et al., dass Krafttraining im endgradigen Bereich den Muskel besser verlängert als Stretching.
Bildnachweis: Rahel Jaskow, „Stretch!„, flickr.com – CC BY-NC-ND 2.0
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