04.05.2018
Was ist eigentlich Beweglichkeit? Wikipedia definiert das folgendermaßen und folgt dabei den gängigen Definitionen der Sportwissenschaft:
„Die Beweglichkeit im sportmotorischen Sinne ist das Vermögen, körperliche Bewegungen mit einer gewissen Schwingungsweite ausführen zu können. Der mögliche Spielraum der Beweglichkeit wird so von der Gelenkigkeit wie von der Dehnfähigkeit bestimmt und auch als Flexibilität oder Biegsamkeit bezeichnet.“
Das gibt uns zwar eine Idee davon, was unter Beweglichkeit zu verstehen ist, hilft uns aber nicht bei der Beantwortung der Frage, ab wann man einen Menschen als beweglich oder schon als steif bezeichnen kann.
Was mich primär interessiert, ist die Frage, was für einen normalen Menschen, von seiner grundlegenden Anatomie her und unter natürlichen Bedingungen („Naturvölker“) als normal angesehen werden könnte.
Spezielle Überbeweglichkeiten – wie etwa das Ausführen eines Spagats oder Verrenkungen wie beim Break-Dance oder auch beim Yoga – sagen weder etwas über die Beweglichkeit der betreffenden Personen im Ganzen aus, noch spielen solche Dinge für den Alltag – auch unter natürlichen Bedingungen – irgendeine Rolle.
Fragen Sie mich oder meine Kollegen, wie sich scheinbar bewegliche Tänzer anfühlen, wenn sie auf unserer Liege sind: bretthart. Das liegt daran, dass zur Ausführung extremer Biegungen in Gelenkteilbereichen oft die Agonisten stark angespannt werden müssen. Das macht langfristig steif.
Wir berücksichtigen also solche „künstlichen“ Bewegungsmuster mit Beweglichkeiten, wie sie für bestimmte Sportarten notwendig sind, nicht. Denn bei all diesen Sportarten handelt es sich um Bewegungen, die unter natürlichen Bedingungen so nicht vorkommen. Denken Sie nur an den Hürdenlauf. Wann kommt das unter natürlichen Bedingungen vor?
Deshalb habe ich folgende Überlegung angestellt:
Was ist der kleinste gemeinsame Nenner? Wer kann als Maßstab dienen? Manche denken, dass die grundlegende Bewegungsamplitude, die etwa ein Gelenk, befreit von Muskeln, Faszien, Bändern und Sehnen ausführen kann, auch im lebendigen Körper ausführbar sein muss. Wenn die Natur das gewollt hätte, wäre es so. Oder was glauben Sie, warum ein Spagat so schwer zu erlernen ist? Möglicherweise hat der Körper einen Grund, sich dagegen zu sperren? Kinder werden beim Ballett ja regelrecht in den Spagat gezwungen.
Wie sooft scheinen es die lieben Kleinen zu sein, die als sinnvoller Maßstab dienen können. Jedenfalls, solange sie noch unbeeinflusst sind von Schulsport und künstlichen Übungs-Kopfgeburten.
Wenn Sie sich auf dem Kinderspielplatz oder im Kindergarten die Kleinen angucken, in welche Positionen sie sich begeben, dann werden Ihnen einige Bewegungs- und Haltungsmuster auffallen, die wie selbstverständlich und ohne jedes weitere Nachdenken ausnahmslos von allen, und zwar mühelos eingenommen werden.
Meine Hypothese ist nun, dass auch jeder Erwachsene mindestens in der Lage sein sollte diese Bewegungen und Haltungen auszuführen. Je leichter es Ihnen fällt, desto besser.
Was Sie auf jeden Fall können sollten:
- tiefe Hocke (so wie der junge Mann im Bild oben)
- Fersensitz
- zwischen Ihren Füßen sitzen (im Yoga „Virasana“)
- Etwas fortgeschritten wäre: zwischen den Füßen sitzen und nach hinten ablegen (im Yoga: „Supta Virasana“).
- Wenn ich das gelegentlich Zuhause mache, sagt meine Tochter „das ist doch was für Babys“ und legt sich locker daneben.
Wenn Sie keine der oben genannten Positionen auch nur im Ansatz hinbekommen, dann würde ich sagen, stimmt schon einiges nicht mehr.
Vor ewigen Zeiten, als ich noch Yoga gemacht habe, hatten wir einen – aus meiner damaligen Sicht – älteren Herren mit rundem Bierbauch mit dabei. Er war nicht in der Lage, einen einfachen Fersensitz auszuführen. Die Spannungen in seinen vorderen Oberschenkeln war so massiv, dass er sich nur mit vielen, vielen Kissen zwischen Po und Ferse entspannt hinsetzen konnte. Also eigentlich war zwischen Ober- und Unterschenkel fast ein 90-Grad Winkel.
Sie können sich diese Positionen wieder aneignen, indem Sie sie immer mal ausführen – auch, wenn Sie dazu anfänglich Hilfen benötigen. Halten Sie sich in der tiefen Hocke halt fest oder legen Sie anfänglich ein Buch unter Ihre Fersen. Setzen Sie sich anfänglich bei „Virasana“ auf ein Kissen. Hauptsache entspannt.
Die Erfahrung zeigt: Wenn Sie das immer wieder machen, geben Sie Ihrem Nervensystem und dem Fasziennetz einen Impuls. Auf Dauer stellt Ihnen der Körper wieder die Länge zur Verfügung, die Sie brauchen.
Nur Geduld müssen Sie haben und bloß nichts erzwingen – Sie werden sich sonst verletzen.
Bildnachweis: Greg Walters, „Asian Squat learnt early„, Creative Commons BY 2.0
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