23.10.2020
In Bezug auf Bewegung und Bewegungsschulen haben wir es mit einem Spektrum zu tun. Das eine Extrem wäre Krafttraining / Powerlifting bei dem es darum geht Muskelketten zu kräftigen und eine Ganzkörperkraft zu entwickeln. Nach Werner Kieser definiert Krafttraining das Vermögen dessen, was der Körper zu leisten imstande ist.
Auf der anderen Seite des Spektrums haben wir Bewegungsschulen, in denen die Bewegungsqualität eine Rolle spielt. Hier geht es um die Entwicklung von Geschmeidigkeit und einer gewissen Anmut in der Bewegung. Dazu gehören etwa die Methoden Feldenkrais oder Alexander-Technik.
Beide Enden des Spektrums gilt es meines Erachtens zu berücksichtigen – nur Kraft allein macht noch keine Bewegung. Sie kennen sicherlich die Bilder von gigantischen Bodybuildern, die aber kaum laufen können. Von Geschmeidigkeit ist da keine Spur.
Um irgendeine Bewegung – ob im Sport oder im Alltag – ökonomisch ausführen zu können, braucht es ein entsprechendes Training, um fließende Bewegungen überhaupt hinzubekommen. Wir alle erkennen einen Könner an fließenden Bewegungen, die den Eindruck von Leichtigkeit vermitteln, wohingegen ein Anfänger eher grobmotorisch, eckig agiert. Denken Sie nur an eine professionelle Ballerina im Gegensatz zu einem übergewichtigen Mann, der im Tutu versucht, die gleichen Bewegungen zum ersten Mal zu vollziehen („Grazil wie eine Gazelle … oder wie heißt das Vieh mit dem Rüssel?“).
Bislang ist in den Bewegungsschulen zwar oft und viel von Geschmeidigkeit gesprochen worden, jedoch ist er selten wissenschaftlich quantifiziert worden.
In einem aktuellen Artikel vom November 2019 mit dem Titel „Smoothness: an Unexplored Window into Coordinated Running Proficiency“ widmen sich die Autoren explizit diesem Thema.
Zunächst ist Geschmeidigkeit vorhersagbare Bewegung. Ist die Bewegung vorhersagbar – also der Unterschied zwischen gewünschtem und tatsächlich stattfindendem Bewegungsablauf – minimal, so ist auch wenig bis gar keine Korrektur dieser Bewegung im Ablauf notwendig. Die Vorhersagbarkeit vereinfacht die Kontrolle.
Geschmeidige Bewegung ist gleichzeitig komplex in dem Sinne, dass unterschiedliche Bewegungsalternativen zur Verfügung stehen, um eine Abweichung von einer idealen Bewegungslinie korrigiert werden kann. Je größer also der Bewegungsreichtum, desto geschmeidiger kann die Bewegung auch bei Abweichung vom Ideal sein.
Die Autoren beziehen sich dabei auf die „Komplexitätsverlust-Hypothese“ (complexity loss hypothesis), die besagt, „dass mit zunehmendem Alter die komplex verflochtenen neuronalen und biologischen Grundlagen, die alle wesentlichen neurophysiologischen Prozesse unterstützen, allmählich und fortschreitend abgebaut werden“. Deshalb verletzen sich ältere Leute häufiger im Alltag, weil der Bewegungsreichtum nachlässt. Wenn ich nur eine Möglichkeit habe einen Schritt nach vorne zu machen und der Boden einmal uneben ist, falle ich hin. Das gilt auch für Läufer – verringerter Bewegungsreichtum kann in erhöhter Verletzungsanfälligkeit resultieren.
Geschmeidigkeit ist also vorhersagbare Bewegung plus Bewegungsreichtum. Die Erhaltung der Geschmeidigkeit wird Sie auch im Alter vor Verletzungen im Alltag bewahren.
Bildnachweis: Mathias Appel, „tiger„, flickr.com – Public Domain
Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Abonnieren Sie meine Faszienbriefe für regelmäßige Artikel
zu den Themen Faszien, Gesundheit, Bewegung und Ernährung.
Plus: Hin und wieder spezielle Angebote.